Philosophie

 Kant

von
Eberhard Braun

Vorrang Kants vor Hegel: Geist der Utopie

  • GU = Geist der Utopie
  • SO = Subjekt-Objekt

 

„So scheint es diesesorts nötig, Kant durch Hegel hindurchbrennen zu lassen; das Ich muß in allem übrig bleiben; ... so ist doch eben das wünschende, fordernde Ich, die uneingeschränkte Postulatswelt seines Apriori die beste Frucht, der einzige Zweck des Systems; und Kant steht deshalb letzthin so sicher über Hegel, wie Psyche über Pneuma, Selbst über Pan, die Ethik über der Weltenzyklopädie„. (GU 236) Das Zitat zeigt, inwiefern Ernst Bloch Kant höher als Hegel schätzt. Hegel ist wichtig um der realen Vermittlung, der Welthaltigkeit willen. Man kann Blochs Hegelbuch (SO) die Herausforderung der faustischen Weltfahrt nennen, die Explikation des genetischen Systems der Weltgehalte.

"Freiheit, Unsterblichkeit, Gott": die Schlüsselfunktion Kants im Hauptwerk

  • PH = Prinzip Hoffnung
  • EM = Experimentum Mundi

 

Kant und Hegel sind die Autoren, die Bloch im Hauptwerk am häufigsten erwähnt. Gegen den leeren Formalismus des kategorischen Imperativs pocht er auf die spezifischen Weltgehalte, auf eine materiale Ethik des Glücks, ohne auf das unbedingte Sollen, die Würde, zu verzichten. Glück ist die endlich real gewordene Würde. Die drei kantischen Ideen „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit„ (PH, 191) bleiben für ihn verbindlich (EM 188-195; Kap. 41: Ideale in der Moral ohne Eigentum). Der Philosoph der Utopie stellt um der Unbedingtheit der Utopie willen Kant über Hegel. Sie ist das Sinn stiftende Begründende, eben Unbedingte, die Voraussetzung, welche das Absolute erst absolut macht, nicht aber das zu Begründende, Resultat. Zielintention ist die totale Erfüllung der Weltgehalte mit dem Unbedingten.

Zeitgenössische Kant-Rezeption

Im deutschen Kaiserreich und danach war der Neukantianismus, die ganz unmetaphysische erkenntnistheoretische Auslegung Kants, akademisch allgegenwärtig – Wilhelm Windelband, Hermann Cohen, Ernst Cassirer, um die Herausragenden zu nennen. Kant war für Bloch die „Milch der frommen Denkungsart„, Wilhelm Windelbands Geschichte der Philosophie war Blochs vade mecum, das er stets auf seinem Schreibtisch liegen hatte. Unter Neukantianern war die Kritik der reinen Vernunft der Schlüssel, womit man die Erkenntniskritik aufschloß, danach kam die Kritik der praktischen Vernunft. Mit der Kritik der Urteilskraft wußte man wenig anzufangen; sie war eher Lückenbüßer. Mit Martin Heideggers Kant und das Problem der Metaphysik, mit Ernst Bloch und Walter Benjamin eröffnete sich eine ganz neue Kant-Interpretation, welche das Problem der Philosophie und zugleich der Metaphysik aufwarf. Die Brücke zwischen sinnlicher und übersinnlicher Welt wurde zum Zentralproblem. Die mechanische Sicht der Natur ist gesprengt, eine anthropomorph ästhetische geht auf.

Hoffnung und Aufklärung

  • LV = Leipziger Vorlesungen

 

Kant hatte die Philosophie auf drei Fragen reduziert: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Die erste Frage beantwortet die Kritik der reinen Vernunft, die zweite die Kritik der praktischen Vernunft und die dritte die Kritik der Urteilskraft. Der Kritik der Urteilskraft mit der dritten Grundfrage: was darf ich hoffen? bleibt es vorbehalten, zwischen der sinnlichen und der übersinnlichen Welt die Brücke zu schlagen: Das Prinzip Hoffnung. Kant ist „der letzte und größte Philosoph der Aufklärung" (LV 4, 11 Überschrift). Aber was ist Aufklärung? Für uns ist sie selbstredend eine historische Epoche: die Philosophie des aufsteigenden Bürgertums im 17. Und 18. Jahrhundert. Für Kant hingegen war sie ganz unhistorisch bedeutungsgleich mit Philosophie schlechthin. Aufklärung wurde so doppelsinnig: einerseits geschichtliche Epoche, andererseits philosophische Intention schlechthin. Mit Kant wird der Aufklärer wird zum scharfsinnigsten Philosophen, dessen Riesenkraft begrifflicher Distinktion Bloch preist.

Akzentverschiebung, "Denken mit der Radiernadel„ und „magnetnadelhaftes Denken"

  • TE = Tübinger Einleitung

 

Bloch weiß, er verdankt dem transzendentalen Idealisten systematisch ungeheuer viel. Die Differenz von Kantischem und Blochschem Denken kommt am besten mit einer Metapher, einer ästhetischen Allegorie zur Geltung: Bloch kontrastiert Kantisches „Arbeiten mit der Radiernadel„ (LV 4, 18) mit „magnetnadelhaftem Denken" (TE 213 Überschrift). Der allegorische Kontrast läßt die begriffliche Differenz aufblitzen. In die Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie 1950 - 1956 hat Bloch Kants Philosophie breit und intensiv aufgenommen. Man spürt spontan: Hier weiß er glänzend Bescheid. Bloch bekannte sich zu Kants Leitsatz: "Wer einmal Kritik gekostet hat, den ekelt für immer alles dogmatische Gewäsch." (LV 4, 150)

Blochs Kant-Interpretationen Kants kritische Philosophie ist für Bloch kein rundes, geschlossenes System aus einem Guß, sie hat Unterbrechungen. (LV 4, 147: Zusammenfassung) Er analysiert nicht nur, wie üblich, die kritischen Hauptwerke. Auch die vorkritischen Publikationen und die kleinen Gelegenheitsschriften, wie z.B. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? von 1783 mit dem berühmten Eingangssatz „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.„ (LV 4, 15) zitiert und kommentiert er treffend. Philosophie will aufklären. Bloch feiert Kants Begeisterung für die Französische Revolution. Im Der Streit der Fakultäten(1798) zitiert er Kant: „'Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern ... - diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer ... eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere, als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.'" (LV 4, 126) Die Besprechung der Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, eine seltsam doppelt ironisch gebrochene Schrift von 1766, krönt Bloch „mit dem ungeheuerlichen, großartigen Satz Kants... 'Ich finde nicht, daß irgend eine Anhänglichkeit, oder sonst eine vor der Prüfung eingeschlichene Neigung meinem Gemüte die Lenksamkeit nach allerlei Gründen vor oder dawider benehme, eine einzige ausgenommen. Die Verstandeswaage ist doch nicht ganz unparteiisch, und ein Arm derselben, der die Aufschrift führet: Hoffnung der Zukunft, hat einen mechanischen Vorteil, welcher macht, daß auch leichte Gründe, welche in die ihm angehörige Schale fallen, die Spekulationen von an sich größerem Gewichte auf der andern Seite in die Höhe ziehen. Dies ist die einzige Unrichtigkeit, die ich nicht wohl heben kann: und die ich in der Tat auch niemals heben will.'„ (LV 4, 42)
Meer der Möglichkeit Legt nun Bloch Kant wortgetreu aus oder projiziert er in ihn die eigene tiefste Intention? Bei Kant blieb der zitierte Satz Episode. Bei Bloch aber hat Hoffnung - utopische Möglichkeit - utopisch-substantiellen Gehalt: Das Meer der Möglichkeit enthält ein Mehr an Gehalt, so sie überhaupt utopisch ist. Sonst wäre sie die Verführung ins Nichts.
Literaturhinweise
  • Hans-Ernst Schiller: Kant in der Philosophie Ernst Blochs, Bloch-Almanach, 5/1985, S. 45 - 92
  • Klaus Christian Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Suhrkamp Verlag Frankfurt/Main 1986
  • Eberhard Braun: Grundrisse einer besseren Welt. Beiträge zur politischen Philosophie der Hoffnung, Talheimer Verlag Mössingen-Talheim 1997