Spuren, VorSchein

 Metaphysik

von
Eberhard Braun

Metaphysik: Wegweiserin des Sinns

  • PH = Prinzip Hoffnung

"Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?"(PH 1) Diese Fragen des Philosophen der Utopie waren auch unsere Fragen als wißbegieriges Kind: Die Antworten darauf sind im Zeitalter des Nihilismus und der Gottferne problematisch geworden, der Sinn des Lebens und der Welt rätselhaft. Für Ernst Bloch war die Metaphysik, die Wissenschaft, welche das Sinnliche überschreitet und auf diese Fragen zu antworten versucht, keineswegs abgetan.

Differenzierung: traditionelle und utopische Metaphysik

  • TE = Tübinger Einleitung

 

In der "Tübinger Einleitung in die Philosophie" führt Bloch nicht bloß konventionell begrifflich, sondern auch ästhetisch in einer metaphernreichen Bildersprache in die Metaphysik in ihrer ganzen geschichtlichen Weite ein. Seine schulförmige Definition: "Metaphysik" "war die erstrebte Grundwissenschaft vom wahrhaften, wirklichen Sein." (TE 351)

Martin Heidegger verfocht die These: Metaphysik ist Onto-Theologie, Lehre von der ewigen, absoluten Wahrheit. Sie ist Erste Philosophie, zum einen Ontologie, allgemeinste Wissenschaft vom Seienden als solchen und im allgemeinen, Wissenschaft von den allgemeinen Ursprüngen und Ursachen des Seienden. Zweitens ist sie Theologie, um sich als Wissenschaft vom zuhöchst Seienden, von Gott als dem Urheber der Welt begründen zu können. Sie ist eine Doppelwissenschaft: allgemeine Metaphysik (Ontologie) und spezielle (Wissenschaft der unsterblichen menschlichen Seele [rationale Psychologie], Wissenschaft der geschaffenen Welt [rationale Kosmologie] und Wissenschaft Gottes [rationale Theologie]). Die spezielle Theologie hat drei Gegenstände: Mensch, Welt und Gott, und sie erreicht in der Gotteswissenschaft ihre Vollendung, worumwillen das Ganze überhaupt veranstaltet worden ist.

3 Möglichkeiten der Kritik der Metaphysik

Bei Kierkegaard, Feuerbach, Marx und Nietzsche setzt die Kritik der Metaphysik ein. Drei Möglichkeiten sind denkbar:

1) Mit der Metaphysik ist auch die Philosophie am Ende. Es gilt, ein neues Weltbewußtsein zu finden, das nicht mehr auf philosophische Weise die Welt reflektiert. Das war die Einstellung des Kritikers der politischen Ökonomie.

2) Die Metaphysik ist vorbei, nicht aber die Philosophie. Wir wollen eine Form der Philosophie erfinden, die nicht mehr metaphysisch ist. Stellvertretend für diese Position ist die Kritische Theorie Herbert Marcuses.

3) Die traditionelle Metaphysik, die Lehre von der Existenz einer "wahren Welt" ist am Ende, nicht aber erledigt sind die Grundprobleme der Metaphysik, die es auf neue Weise zu lösen gilt. Das ist die Einstellung Ernst Blochs. Bloch verzeitlicht, das heißt er verweltlicht die Metaphysik: sie ist keine "Jenseiterei" mehr. Auf welche Weise? Er ästhetisiert sie: "nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt" (Nietzsche, Geburt der Tragödie, KSA 1, 47). Das jenseitige "Oben" verweltlicht sich in eine utopische Zukunft möglichen Gelingens. Mit der Folie der drei Möglichkeiten gewinnt Blochs metaphysisches Konzept der Utopie Kontur.

Die paradoxe Öffnung des metaphysischen Systems

  • EM = Experimentum Mundi

 

Die These der konventionellen Metaphysik war, nach einem Kernsatz des Aristoteles: "Die Wirklichkeit ist höher als die Möglichkeit". (Aristoteles, Metaphysik, I 8, 1049 b 9) Heidegger hingegen behauptet: "Höher als die Wirklichkeit ist die Möglichkeit (Heidegger, Sein und Zeit, S. 38) Er meint die unausweichliche Möglichkeit des eigenen bevorstehenden Tods: Das Sein und das Nichts. Bei Bloch ist sie nicht nur menschlich, erst recht nicht individualistisch gefaßt. Seine Sicht ist nicht nur gesellschaftlich dimensioniert, sie ist kosmologisch erweitert: Phantasmagorie der Unsterblichkeit der Welt, des ewigen Lebens ohne "Beilhieb des Todes". Die Kategorie Möglichkeit erörtert Bloch ausführlich in "Das Prinzip Hoffnung" und in "Experimentum Mundi", das die Kategorienlehre breit exponiert und als die krönende Summe seines Lebenswerks anzusehen ist. Da heißt es: "Objektiv-reale Möglichkeit ist die ... Kategorie der Kategorien überhaupt.".(EM 141) Mit der Schlüsselkategorie Möglichkeit steht und fällt die Rationalität der Blochschen Philosophie.

Möglichkeit ist zunächst eine subjektive Wunschvorstellung, ein phantastischer Wachtraum. Kann dieser Wunsch nach absolutem Glück überhaupt in Erfüllung gehen? Das ist die alles entscheidende Frage. Die "Offenheitskategorie katexochen" (EM 139) ist, so lautet die formgerechte Definition, "partielle Bedingtheit" (EM 128 u. ö.) und "Bedingung Wirkgrund des Zukünftigen in einem mehr oder weniger unausgemachten Schwebezustand". (EM 126)

Die objektiv-reale Möglichkeit, so enthüllt sich, ist in der Tat ein vermittlungsloser Sprung in die Unsterblichkeit, eine Wesensverwandlung des Menschen wie der Welt, in der Tat ein verführender Sprung ins Nichts. Sie sprengt paradox das System, die Allheit der gegebenen Bedingungen, die Totalität. Die Blochsche Philosophie ist Metaphysik, aber sie ist nicht mehr Erste, sie ist Letzte Philosophie.

Literaturhinweise
  • Hans-Heinz Holz, Logos spermaticos. Ernst Blochs Philosophie der unfertigen Welt, Luchterhand Verlag Darmstadt und Neuwied 1975
  • Jörg Zimmer, Die Kritik der Erinnerung. Metaphysik, Ontologie und geschichtliche Erkenntnois in der Philosophie Ernst Blochs, Dinter Verlag Köln 1993
  • Burghart Schmidt, Kritik der reinen Utopie. Eine philosophische Untersuchung, J. B. Metzler Verlag Stuttgart und Weimar 1988
  • Eberhard Braun, Grundrisse einer besseren Welt. Beiträge zur politischen Philosophie der Hoffnung, Talheimer Verlag Mössingen-Talheim 1997