Konkrete Utopie

 Konkrete Utopie

von
Hans-Ernst Schiller

Utopie ist unerlässlich

  • PH = Prinzip Hoffnung
  • GU2 = Geist der Utopie,
    2. Fassung

Der Begriff konkrete Utopie ist von Bloch im Hinblick auf die marxistische Kritik der Utopie gebildet worden. Utopie im Sinne dieser Kritik war die Vorstellung eines vollkommenen Gesellschaftszustands, die keine realistische Perspektive der Überwindung des gegenwärtigen bietet, weil sie seinen Idealen blind verhaftet bleibt und nicht an "die wirkliche Bewegung" anknüpft, "welche den jetzigen Zustand aufhebt." (Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 35) Bloch will der Verallgemeinerung einer solchen Krtitk auf jegliche Utopie entgegentreten, die Vielfalt und Ubiquität des Utopischen aufweisen und insbesondere die Unerlässlichkeit sozialutopischer Antizipationen im Kontext marxistischer Praxis geltend machen.

"Konkret" heißt "real möglich"

Konkret wird Utopie zunächst durch ideologiekritische Selbstreflexion, die sie instandsetzt, qualititativ Neues zu intendieren; sodann durch die Beziehung auf real Mögliches. (PH 235) Nicht durch genaue Bestimmung des besseren, gewünschten und geforderten Zustands ist Utopie demnach konkret, sondern durch die Vermittlung mit den historischen Bedingungen und Tendenzen. Die dem Begriff Utopie in abwertender Alltagsredeweise anhaftende Bedeutung des Unrealisierbaren wird durch das Adjektiv konkret ins Gegenteil verkehrt. Konkrete Utopie ist der Prozess der Verwirklichung, in dem die nähernen Bestimmungen des Zukünftigen tastend und experimentierend hervorgebracht werden.

Utopie und Sozialismus Blochs Begriff der konkreten Utopie setzt die Marxsche Ökonomiekritik voraus und bezog sich insbesondere seit Anfang der dreißiger Jahre positiv auf Arbeiterbewegung und kommunistische Partei als Subjekte einer konkret utopischen Praxis. (GU2 723ff u.ö.) Mittlerweile sind diese Bezugspunkte "wirklicher Bewegung" verschwunden, und es fragt sich, ob Utopie, verstanden als aufs Ganze der Produktionsweise gehenden Alternative, gegenwärtig noch konkret und praktisch sein kann. Die wachsende Enttäuschung über das gebrochene Versprechen des Sozialismus und das Entsetzen über die Kosten des gescheiterten Projekts haben der Utopiekritik in den letzten Jahrtzehnten erneut Auftrieb gegeben. Anders als die Marxsche ist die heute vorherrschende Utopiekritik jedoch konservativ. Die Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft, in der sich die Menschen optimal entfalten können, gilt als die Wurzel allen Terrors, insbesondere, wenn sie mit dem Anspruch moralischer Verbindlichkeit auftritt. Deshalb seien Mensch und Gesellschaft im Großen und Ganzen zu nehmen, wie sie sind.
Eschatologischer Kern, religiöses Erbe Die Blochsche Konzeption ist durch eine solche Kritik nur teilweise getroffen. Ihre wirkliche Schwäche besteht darin, dass sie die reale Möglichkeit sozialer Utopie voraussetzt, statt sie zu erforschen. Für Bloch ist Utopie weit mehr als Sozialutopie: Der Kern utopischer Hoffnung sei religiöses Erbe und damit eschatologisch gerichtet. Die Veränderung der Gesellschaft ist nichts Letztes, sondern stellt eine notwendige Etappe und Bedingung im seinsgeschichtlichen Prozess der Realisierung einer eschatologischen Erfüllung dar. Die reale Möglichkeit dieser äußersten Utopie ist noch nicht geschichtlich, sondern nur spekulativ-ontologisch zu denken; sie hat den Status eines Postulats. (GU2 343 f.; PH 1383 u.ö.)
Utopiekritik Die eschatologische Ausweitung des Utopiebegriffs bei Bloch enthält die Gefahr einer voluntaristischen Missachtung der subjektiven und objektiven Möglichkeiten. In eschatologischer Ungeduld erscheint der revolutionäre Prozess als eine Angelegenheit, die man hinter sich bringen und nicht allzu genau betrachten muss, um möglichst rasch zum Eigentlichen, der Bereitung einer Identität von Sein und Selbst, von Dass und Was, An-sich- und Für-sich-Sein zu gelangen. Die Ausweitung des Utopiebegriffs enthält jedoch auch die Möglichkeit einer Relativierung der geschichtlich-gesellschaftlichen Zielsetzung. Nichts Historisches kann sich zum Absoluten aufschwingen. Insofern bleibt der Blochsche Utopiebegriff von der gegenwärtigen Utopiekritik unbetroffen.