Zur Frage nach der menschlichen Natur.

Zum 30. Todestag von Ernst Bloch (2007)


Sehr gern erinnere ich mich an Bloch und seine Tübinger Seminare und Vorlesungen der 1960er Jahre. Gern auch denke ich zurück an eine Demonstration gegen den Vietnam-Krieg (im Jahre 68?), die führte über den grandiosen Tübinger Schlossberg, und es nahmen teil eine Vielzahl von Studenten und Studentinnen, aber nur zwei Professoren, die hießen Ernst Bloch und Walter Jens. Bloch – damals schon über 80 Jahre alt – begegnete mir als eine durchaus energische, humorig-temperamentvolle Persönlichkeit mit hoher Eloquenz und Überzeugungskraft, ein ganz und gar nicht alltäglicher Philosoph, der redete mit Marx- und Engelszungen, pochte auf Materialismus, einen wohl verstandenen, dialektischen Materialismus (kein Nescafé und keine Klotz-Materie!) und meinte, wenn es Rettung gäbe, dann sei diese aus der Natur zu erhoffen, trotz aller notwendigen Enttäuschbarkeit der Hoffnung – spes contra spem – und trotz oder gerade wegen des Umstands, dass Sinn, Zweck und Ziel der Geschichte sich noch keineswegs „endgültig“ herausgestellt haben, noch nicht wirklich richtungweisend herausgearbeitet sind. Rettung durch die Natur – aktuell und auf den ersten Blick utopisch, aber nicht konkretisierbar. Eine negative Utopie? Wozu? In welchen Raum-Zeiten sollte sie sich entfalten können, wenn die heutigen, aktuellen randvoll angefüllt sind mit Bildern und Nachrichten von deformierter Natur, Umweltkatastrophen aller Art, fast täglich neuen Opfern, Personen- und Sachschäden in erschreckendem Ausmaß, und die Umwelt-Experten werden sich nicht einig, erst recht nicht die Politiker, von denen einige besonders kapitalsmächtige auf die Umwelt pfeifen; erst recht nicht die Umwelt-Experten, die glauben, sich gegen solche Politiker auflehnen oder gar durchsetzen zu können: Man „zieht in Erwägung“, die Treibhausgase im notwendigen Ausmaß bis zum Jahre 2050 zu reduzieren … Und wie lange wird es dauern, dieses „Erwägen“? Bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag? In dieser Situation scheint nicht nur die Hoffnung auf die Natur, sondern auch das frühe Marxsche Programm einer Humanisierung der Natur und Naturalisierung des Menschen gänzlich außer Kraft gesetzt zu sein. Wobei zu beachten ist, dass schon der junge Marx eine durch die kapitalistische Gesellschaft „gemordete menschliche Natur“ angeprangert hat, und zwar in der wenig bekannten Schrift ‚Vom Selbstmord’ aus dem Jahre 1846! (1) Marx benutzt hier den Schlüsselbegriff, der Mensch und Natur miteinander verbindet: die menschliche Natur, einen Begriff, in dessen Umfang und Verwendung die Konnotationen ‚Eigenart, Wesen und Substanz’ immer stärker an Bedeutung und Bedeutsamkeit gewonnen haben. So dass zu fragen ist, was denn seine Grundbedeutung überhaupt noch zu leisten vermag. Denn es sprechen gewichtige Gründe sogar dagegen, den Begriff überhaupt noch zu akzeptieren. Thesenartig lauten solche Einwände: 1.Es gibt gar keine menschliche Natur. 2.„Des Menschen Natur ist seine Kultur.“ (Kant) 3. Langfristig erübrigt sich der Begriff, weil es möglich sein wird, den natürlichen Menschen vollständig durch einen künstlichen zu ersetzen. Einwände solcher Art gehen zweifellos aufs Ganze. Sie extensiv zu behandeln, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Unverzichtbar scheint mir aber folgender Kommentar: Zu 1. Die Nicht-Existenz einer menschlichen Natur behauptet u.a. Jean-Paul Sartre während seiner existenzialistischen Phase der 1940er und 1950er Jahre. Genauer: Sartre lehnt es ab, das factum brutum der „vorgängigen“ Existenz des Menschen mit dem Begriff ‚menschliche Natur’ zu belegen. Stattdessen hypostasiert er den Menschen als alleinigen Schöpfer seines eigenen Wesens: „… der Mensch ist nichts anderes als wozu er sich macht“ (2). Nichtsdestoweniger nennt er als eigentlichen Grund seines Verzichts auf den Begriff ‚menschliche Natur’ die angebliche Nicht-Existenz Gottes: „Also gibt es keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, um sie zu entwerfen.“ (ebd.) – Aber: Seit Kants profunder Auseinandersetzung mit den Gottesbeweisen ist bekannt, dass eine Existenz Gottes sich zwar nicht beweisen, aber immerhin, z.B. aus moralischen Gründen, postulieren lässt. Ein Schluss auf eine Nicht-Existenz Gottes ergibt sich daraus jedoch nicht. Weder die Existenz noch die Nicht-Existenz Gottes lässt sich beweisen. Die entscheidende Prämisse für Sartres Schluss auf die Nicht-Existenz einer menschlichen Natur wird somit hinfällig. These 1 ist nicht haltbar, jedenfalls nicht mit der von Sartre vorgeschlagenen Begründung. Zu 2. Atheismus ist keine Voraussetzung für die Leugnung der menschlichen Natur. Kant bewerkstelligt das Gegenteil. Bei ihm dient Gott als Garant der Unsterblichkeit der Seele, die dabei zwar Einzelseele einer bestimmten Person bleibt, aber der bloßen Naturhaftigkeit der menschlichen Natur enthoben wird. Da aber die Einzelperson sich im Tode auflöst, gibt es für den Menschen keinen direkten Weg von der Personalität zur Unsterblichkeit der Seele, zumal in der natürlichen Einzelperson die leibliche Individualität untrennbar mit der geistig-seelischen Individualität verbunden ist. Dies dürfte der tiefere Grund dafür sein, dass Kant die Persönlichkeit des Einzelnen höher bewertet als seine bloße Personalität (sein bloßes Person-Sein). Persönlichkeit erlangt der Mensch durch eigene Arbeit, eigenes Handeln, Ich-Kultur und Einsatz für andere Menschen. Gestützt auf den Kategorischen Imperativ, der das entsprechende Handlungsethos erwirkt, kann es dem Menschen gelingen, ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen und dadurch der Unsterblichkeit der Seele würdig und teilhaftig zu werden. Wohingegen die bloße Naturhaftugkeit der Person stets Sterblichkeit bedeutet. Überwindbar scheint diese Sterblichkeit nur, wenn die – gänzlich durch Kultur und Geist bestimmte – Persönlichkeit sich bedingungslos dem rigorosen Pflichtethos des Kategorischen Imperativs unterwirft. Und genau dies veranlasst Kant, zu behaupten, die Kultur des Menschen mache seine Natur aus. Dieses grandiose Konstrukt fällt jedoch auseinander, wenn seine Prämissen sich als brüchig bzw. – wie im Falle der theologisch-glaubensmäßigen Faktoren – als wissenschaftlich nicht nachvollziehbar erweisen. Dies gilt vor allem für die universal-gesetzgeberische Grundform des Kategorischen Imperativs (3), während sich kurioserweise aus dessen personalistischer, d.h. an einem personalen Menschheitsideal orientierter Form nach wie vor die Grundrechte der Person unmittelbar ableiten lassen, nämlich: Würde, Freiheit, Recht auf körperliche Unversehrtheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit (4). Dabei wird Kant allerdings gewissermaßen vom Kopf auf die Füße gestellt: Grundlegend und unverzichtbar bleibt die Personalität des Menschen und damit auch die menschliche Natur, nicht nur begrifflich, sondern als Eckpfeiler jeglicher Anthropologie. Der Mensch ist Natur- und Kulturwesen zugleich. Das ist seine Natur im umfassenden Sinne des Begriffs. Zu 3. Gerade aus dieser Doppel-Natur des Menschen entstehen allerdings immer wieder neue Probleme, Anmaßungen und Verwirrungen. So auch der Wunsch, einen „künstlichen Menschen“ zu schaffen. Dahinter stecken alte Menschheitsträume, neuere Science fiction und immerhin auch einige neuere Ergebnisse der Wissenschaften, insbesondere der Genetik und der Neurowissenschaften. Es geht jedoch um noch mehr, nämlich um die uralte Anwandlung, sein zu wollen wie Gott, eine Anmaßung, die auch in unserer Zeit noch unverblümt geäußert wird. (5) Man hofft, sämtliche Baupläne der Natur bis hin zur Evolutionsgeschichte des Menschen entschlüsseln und nutzbar machen zu können. Übersehen wird dabei die Frage, ob ein „künstlicher Mensch“ überhaupt konziperbar ist. Klar negativ lautet die Antwort, die der Personalist Dieter Sturma in einem Sammelband zum Thema ‚menschliche Natur’ (6) gibt. Demnach ist das Bewusstsein des Menschen ebenso wenig wie seine Psyche denkbar ohne die psycho-physische Einheit, die sich in der Leiblichkeit konstituiert. Noch weiter geht Ludwig Siep, der nicht nur fordert, die „bisherige Beschaffenheit des Körpers“ der Menschen unter gesetzlichen Schutz zu stellen, sondern auch sämtliche Versuche, die menschliche Natur einschneidend zu verändern, öffentlich zu kontrollieren (7). Schon diese wenigen Hinweise können demon-strieren, dass auch langfristig auf den Begriff ‚menschliche Natur’ keinesfalls verzichtet werden kann. Nichtdestoweniger problematisch bleibt das Verhältnis von Kultur und Natur des Menschen. Einleuchtend scheint hier die Auffassung, dass auch die Kultur – und mit ihr Technik und Zivilisation – als evolutionäres Produkt der Natur anzusehen ist. Aber: Nicht nur tritt der „Geist als Widersacher der Seele“ auf (wie bei Ludwig Klages), Geistig-Seelisches schlägt auch durch im Willen zur Macht über die Natur und zur rücksichtslosen, teilweise anscheinend irreversibel zerstörerischen Ausbeutung der Natur, und damit widersacherisch auch gegen den Leib des Menschen. Deutlich sichtbar ist dies vor allem in der schleichenden Umweltkatastrophe, von der niemand weiß, ob sie noch abwendbar ist. Verständlich ist wohl, dass Theoretiker und Praktiker in dieser Situation versuchen, die Systemfrage von der Umweltfrage her neu zu stellen. Fraglich scheint jedoch, ob Ursache und Wirkung in solcher Perspektive tatsächlich aufgespürt werden können. Nicht zu bezweifeln ist doch, dass bestimmte Mängel ökonomischer Art, und zwar nicht nur im kapitalistischen, sondern auch im „realsozialistischen“ Wirtschaftssystem, die Umweltprobleme mit verursacht haben. Deutlich sehen wir jedenfalls, in welch hohem Maße auch Geist und Psyche von der Natur abhängen. Blochs Hoffnung auf „Rettung durch die Natur“ (s.o.) gewinnt insofern neue Relevanz, als diese Hoffnung sich immer klarer von der negativen Folie der Umweltzerstörung abhebt. Erahnbar wird, was Bloch meinte, als er erklärte, dass wir nur im „Bündnis mit dem Agens der Natur“ eine Chance auf Sinnerfüllung unserer Arbeit haben können. (8) Und im Hinblick auf das große Ganze finden wir in dem gleichen Buch (‚Experimentum Mundi’): „Kurz, eine Natur, deren Zeit, nicht nur deren Raum, noch andauert und die eigentliche Geschichtszeit umgibt, ist Endproblem, nicht Anfangsproblem der Geschichte und ihres schließlichen, keinesfalls völlig naturfrei menschenhaften Horizonts.“ (9) Plausibel wird uns dies erst recht, wenn wir den menschlichen Geist als evolutionäres Produkt der Natur erkennen (s.o.), so dass die menschliche Natur als unverzichtbares Bindeglied zwischen Materie und Geist erscheint. Inwieweit solche Brücken tragfähig sind, verdeutlicht Bloch in seinem Werk auf Schritt und Tritt. (10)

Anmerkungen:
(1)vgl. Mario Scalla: ‚Gemordete menschliche Natur’ … Karl Marx’ nachgelassene Schrift über den Selbstmord’. In: ‚Freitag 49’, http://www.freitag.de/2001/49/01491501.php
(2)J.-P. Sartre: ‚Ist der Existenzialismus ein Humanismus?’ In: ders.: Drei Essays, Zürich u.a. 1981, S. 10
(3)vgl. K. Robra: ‚Und weil der Mensch Person ist…’, Essen 2003, S. 63-67
(4)ebd.
(5)a.a.O. S. 141
(6)Kurt Bayertz (Hrsg.): ‚Die menschliche Natur. Welchen und wie viel Wert hat sie?’ Paderborn 2004
(7)In: ‚Frankfurter Rundschau’, 23.05.2005, Nr. 195, http://www.mentis.de/index.php?id-00000024&article_id-00000028&category-&bo...
(8)E. Bloch: ‚Experimentum Mundi’, Frankfurt a.M. 1977, S. 227 (9)a.a.O. S. 225
(10) Hierzu: Doris Zeilinger: ‚Wechselseitiges Ergreifen: ästhetische und ethische Aspekte der Naturphilosophie Ernst Blochs. Würzburg 2006

 
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Klaus
Robra
 
 
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